Tag: 16. April 2015
Günter Wilhelm Grass und Europäischer Literature
Herzischlichen beileid für die wellt dem Leterature!
Günter Wilhelm Grass[1][2] (* 16. Oktober 1927 in Danzig–Langfuhr, Freie Stadt Danzig, als Günter Wilhelm Graß; †13. April 2015 in Lübeck) war ein deutscher Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker. Grass war seit 1957 Mitglied derGruppe 47 und wurde mit seinem Romandebüt Die Blechtrommel 1959 mit einem Schlag zu einem zentralen und international berühmten Autor der deutschen Nachkriegsliteratur. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im Jahr 1999 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Herkunft und Familie
Günter Grass war der Sohn eines protestantischen Lebensmittelhändlers und einer Katholikin kaschubischer Abstammung und verbrachte seine Kindheit in Danzig in einfachen Verhältnissen. Die Eltern betrieben ein Kolonialwarengeschäft im Danziger Stadtteil Langfuhr (heute: Wrzeszcz). Die kleine Zweizimmerwohnung hatte kein eigenes Bad.
Durch seine katholische Mutter geprägt, war Grass als Jugendlicher unter anderem als Messdiener tätig. Später geriet er unter den Einfluss der NS-Ideologie, obwohl er nach eigenen Angaben von der Hitlerjugend nicht begeistert war.[3]
Kindheit und Jugend
Ein Teil von Günter Grass’ Kriegsgefangenenakte
Im Zweiten Weltkrieg meldete er sich mit 15 Jahren – nach eigenen Angaben, um aus der familiären Enge zu entkommen – freiwillig zur Wehrmacht.[4][5] Nach dem Einsatz als Luftwaffenhelfer und der Ableistung des Reichsarbeitsdienstes wurde er am 10. November 1944 im Alter von 17 Jahren zur 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“ der Waffen-SS einberufen.[6]
Nach einer Verwundung am 20. April 1945 bei Spremberg wurde Grass am 8. Mai 1945 bei Marienbad gefangen genommen und war bis zum 24. April 1946 in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Grass behauptete, als Gefangener in Bad Aibling Joseph Ratzinger getroffen zu haben.[7][8][9][10] Grass gab sich bei seiner Gefangennahme den Amerikanern gegenüber als Angehöriger der Waffen-SS zu erkennen, verschwieg dies jedoch in seinen bis 2006 veröffentlichten Biografien. Dort hieß es stets, er sei 1944 Flakhelfer geworden und danach als Panzersoldat in die Wehrmacht einberufen worden. In seinem autobiografischen Werk Beim Häuten der Zwiebel aus dem Jahr 2006 gab Grass bekannt, dass er sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und daraufhin im Alter von 17 Jahren zur Waffen-SS eingezogen worden sei.[11][12]
Seit Oktober 2014 zeigt das Lübecker Günter-Grass-Haus ein neues Dauerausstellungsmodul: „Grass als Soldat“. In einer Multimedia-Installation lassen sich unter anderem die Marschroute jener SS-Panzerdivision, der Grass angehörte, abrufen sowie seine Kriegsgefangenenakte und Fotografien des Jugendlichen 1944 in Uniform des Reichsarbeitsdienstes. Eine Vitrine zeigt Seiten des Originalmanuskripts von Beim Häuten der Zwiebel, sie verdeutlichen den Schreibprozess. Tagebuchnotizen von Klaus Wagenbach aus dem Jahr 1963 belegen, dass Grass ihm damals von seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS erzählt hatte.[13]
Ausbildung und Beziehungen
In den Jahren 1947/1948 absolvierte er ein Praktikum bei einem Steinmetz in Düsseldorf. Danach studierte er von 1948 bis 1952 an der Kunstakademie DüsseldorfGrafik und Bildhauerei. Seinen Lebensunterhalt verdiente er zusammen mit dem später bekannt gewordenen Maler Herbert Zangs als Türsteher im Lokal Csikós auf der Andreasstraße in der Düsseldorfer Altstadt. Später verewigte er Herbert Zangs, der wie Grass im Krieg Soldat war, als eigenwilligen Maler Lankes in der Blechtrommel. Das Studium setzte er von 1953 bis 1956 an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin als Schüler des Bildhauers Karl Hartung fort. Danach lebte er bis 1959 in Paris. 1960 zog er erneut nach Berlin-Friedenau, wo er bis 1972 wohnte. Von 1972 bis 1987 lebte er in Wewelsfleth in Schleswig-Holstein.
1954 heiratete Grass die Schweizer Ballettstudentin Anna Margareta Schwarz, aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Die Zeit von Anfang 1956 bis Anfang 1960 verbrachte er mit Anna Schwarz in Paris und zeitweise auch in Wettingen[14] in der Schweiz, wo auch das Manuskript für Die Blechtrommel entstand. 1957 wurden dort die Zwillinge Franz und Raoul geboren. 1961, nach der Rückkehr nach Berlin, folgte die Tochter Laura, 1965 wurde der Sohn Bruno geboren. 1972 trennten sich Günter und Anna Grass. Die Schauspielerin Helene Grass, geboren 1974, ist die gemeinsame Tochter mit der Architektin und Malerin Veronika Schröter (1939-2012), mit der Grass in den 1970er-Jahren eine mehrjährige Beziehung hatte. 1979 wurde Nele Krüger, Grass’ Tochter mit der Lektorin Ingrid Krüger, geboren. Im selben Jahr heiratete er in zweiter Ehe die Organistin Ute Grunert, die selbst zwei Söhne in die Ehe mitbrachte. In dem autobiographischen RomanDie Box lässt Grass seine sechs leiblichen Kinder und die Söhne von Ute Grunert als „seine acht Kinder“ auftreten.[15][16]
Von August 1986 bis Januar 1987 lebte Günter Grass zusammen mit Ute Grunert in Indien, meist in Kalkutta.
Schaffenszeit und politische Aktivitäten
In den Jahren 1956/57 begann Grass neben ersten Ausstellungen von Plastiken und Graphiken in Stuttgart und Berlin schriftstellerisch tätig zu werden. 1956 debütierte er als Lyriker, 1957 als Dramatiker und Librettist von Balletten.[17] Bis 1958 entstanden vor allem Kurzprosa, Gedichte und Theaterstücke, die Grass dem poetischen oder absurden Theater zuordnet.
Mit seinem ersten Roman Die Blechtrommel gelang 1959 dem damals 31-jährigen der literarische Durchbruch. Der Entwicklungsroman, der später auch von Regisseur Volker Schlöndorff erfolgreich verfilmt wurde, repräsentiert ein Stück deutscher Zeitgeschichte: er umspannt die fünf Jahrzehnte von 1899 bis in die Anfänge der Bundesrepublik. In seinem Werk thematisiert er auch die kollektive Verdrängung der Zeit während des Dritten Reiches durch die deutsche Bevölkerung. Grass ging es dabei auch um eine Kritik an der mangelnden Aufarbeitung dieser Zeit.[18]
In der Wohnung von Grass’ Nachbarn und Freund Uwe Johnson in Berlin-Friedenau, der sich zu jener Zeit in New York aufhielt, zogen am 19. Februar 1967 die Mitglieder der zum Jahresanfang gegründeten Kommune I ein. Es war Johnsons West-Berliner Atelier- und Arbeitswohnung, die er neben seiner eigentlichen Wohnung in der Stierstraße 3 unterhielt und während seines Auslandsaufenthaltes an Ulrich Enzensberger untervermietet hatte. Johnson erfuhr davon erst aus der Zeitung. In der Wohnung wurde das „Pudding-Attentat“ auf US-Vizepräsident Hubert H. Humphrey geplant. Es flog auf, führte aber zu ausführlicher Medienberichterstattung. Auf Bitte Johnsons, der zu der Zeit nicht in Deutschland weilte, ließ Günter Grass die Wohnung von der Polizei räumen.
Nach einer Lesung von Grass auf dem Evangelischen Kirchentag 1969 in Stuttgart nahm sich ein ehemaliges SS-Mitglied mit Zyankali das Leben. Den Vater der späteren Journalistin und Politologin Ute Scheub hat Grass im Tagebuch einer Schnecke in der Figur des „Manfred Augst“ geschildert.[19][20]
Im November 1971 nahm Grass an einer Woche der Deutschen Kultur in Tel Aviv teil und wurde von der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir zu einem Gespräch empfangen.[21]
Grass, Bundeskanzler Willy Brandtund dessen Frau Rut, 1970
Grass unterstützte oft die SPD in den Wahlkämpfen und wurde 1982 deren Mitglied.
1965 veröffentlichte er das Taschenbuch dich singe ich demokratie – loblied auf willy;[22] Willy Brandt hatte er 1961 kennengelernt. Dann rief er mit anderen das „Wahlkontor deutscher Schriftsteller“ ins Leben.[23] Er war enttäuscht, als Willy Brandt ihn nach seinem Wahlsieg nicht mit einer Aufgabe betraute.[24]
1974 trat Grass aus Protest gegen die Haltung der Bischöfe in der Frage des Abtreibungsrechts und der geforderten Abschaffung des § 218 aus der Kirche aus.[25]
Mit seinen Ansichten eckte er unter anderem innerhalb der SPD oftmals an. So sprach er sich im Februar 1990 gegen dieDeutsche Wiedervereinigung und für eine Konföderation beider deutscher Staaten aus, um dem Osten die Möglichkeit zu geben, „sich wirtschaftlich und demokratisch [zu] festigen“.[26] 1992 kündigte Grass aus Protest gegen denAsylkompromiss[27] seine SPD-Mitgliedschaft wieder auf. Gleichwohl war er auch danach politisch tätig und setzte sich für die Ideen der Sozialdemokraten ein: 2005 unterstützte er die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis in ihrem Wahlkampf und warb für die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer für Besserverdienende.
Als Mitgründer des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS), heute in ver.di, gehörte Grass zu den Kritikern der Verbandspolitik, die seiner Meinung nach unter Vorsitz von Bernt Engelmann gegen osteuropäische Diktaturen oft allzu duldsam war. Auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Hamburg (24. bis 26. September 1987) ließ er sich in den Bundesvorstand wählen, trat aber auf dem Kongress in Stuttgart 1988 mit dem gesamten Vorstand zurück, weil eine Diskussion über Alternativen zum Beitritt des Verbandes in die IG Medien – Grass hatte eine eigene Autorengewerkschaft unter dem Dach des DGB vorgeschlagen – ausblieb. Mit ihm verließen die VS-Bundesvorsitzende Anna Jonas und rund 50 weitere Autorinnen und Autoren den Verband.[28][29]
Seit 1968 war Grass Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland, dessen Ehrenpräsident er seit 2009 war.
Eine Zusammenarbeit mit dem Jazzmusiker Günter Sommer ab 1985 brachte mehrere Tonträger hervor, auf denen der Schriftsteller zu Perkussionsmusik von Sommer aus seinen Werken liest.
Tadeusz Różewicz und Grass, 2006
Günter Grass war offizieller Unterstützer der Aktion 1:1. des LSVD, die sich für gleiche Rechte und Pflichten bei einerLebenspartnerschaft einsetzt.[30]
1997 gründete Grass die Otto-Pankok-Stiftung zu Ehren seines ehemaligen Lehrers und als Engagement zu Gunsten derSinti und Roma.
Grass war 1996 Mitunterzeichner der Frankfurter Erklärung zur Rechtschreibreform. Auch in neueren Werken verwendete Grass weiterhin die traditionelle Rechtschreibung. 1999 erhielt Günter Grass im Alter von 72 Jahren den Nobelpreis für Literatur für sein Lebenswerk. 2005 gründete er den Autorenzirkel Lübeck 05.
Grass engagierte sich außerdem gegen Atomkraft, z. B. bei einer Lesung vor dem Kernkraftwerk Krümmel im April 2011.[31]
Günter Grass lebte bis zu seinem Tod in Behlendorf im Kreis Herzogtum Lauenburg in der Nähe der Kreisstadt Ratzeburgund etwa 25 Kilometer südlich von Lübeck. In Lübeck befindet sich das Günter-Grass-Haus mit dem überwiegenden Teil seiner literarischen und künstlerischen Originalwerke.
Grass starb am 13. April 2015 im Alter von 87 Jahren in einem Lübecker Krankenhaus an den Folgen einer Infektion.[32][33]
Schreiben gegen das Vergessen
Als Intention der Werke Grass’ ist das „Schreiben gegen das Vergessen“ auszumachen. Seine Werke thematisieren den Nationalsozialismus bzw. handeln vor dessen Hintergrund. Auch die Werke Grass’, die in der Nachkriegszeit spielen (beispielsweise Im Krebsgang, 2002), behandeln die Thematik des Vergessens und die der Schuld. Laut Begründungsschrift des Komitees für seinen Nobelpreis wurde er dafür geehrt, dass er „in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat.“[34]
Erzählende Werke
Der Roman Die Blechtrommel (1959) ist in einer sehr bildlichen Sprache geschrieben. Er handelt von dem infantilen Sonderling Oskar Matzerath, der von seiner „Kinderperspektive“ aus die Erwachsenenwelt beschreibt und dank seiner Blechtrommel auch über Ereignisse berichten kann, an denen er nicht unmittelbar beteiligt war, wie zum Beispiel die Geburt seiner Mutter. Mit der Blechtrommel, in der Grass erstmals historische Ereignisse mit seiner surreal-grotesken Bildersprache konfrontierte, hatte er seinen Stil gefunden. Als einer der ersten deutschsprachigen Schriftsteller stellte er sich den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und entschied sich bewusst für die gegenständliche Beschreibung des historischen Zusammenhangs. Auch die Kaschubei fand durch dieses Werk Aufnahme in die Weltliteratur.
Für den Roman erhielt Grass, nach Lesung aus dem noch unveröffentlichten Manuskript, 1958 den Preis der Gruppe 47, deren Mitglied er seit 1957 war. 1960 wollte die Jury des Bremer Literaturpreises Grass für die Blechtrommel prämieren, was aber vom Bremer Senat verhindert wurde. In diesem und dem folgenden Jahr wurde der Preis nicht verliehen. Die Blechtrommel wurde 1979 von Volker Schlöndorff verfilmt.
Sein ebenfalls im Danzig des Zweiten Weltkrieges spielendes zweites Buch Katz und Maus, in dem er die Geschichte des Jungen Joachim Mahlke erzählt, wurde dagegen zunächst Anlass eines Skandals. Hauptsächlich wegen einer „Onanierszene“ beantragte der hessische Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen 1961 bei der Bundesprüfstelle, die Novelle wegen unsittlichen Inhalts zu indizieren. Auf Protest der Öffentlichkeit und anderer Schriftsteller wurde der Antrag allerdings wieder zurückgezogen. Zwei Jahre später erschien Hundejahre, das letzte Werk der Danziger Trilogie.
Mit Die Plebejer proben den Aufstand erschien 1966 ein weiteres Drama von Grass, das sein bekanntestes Theaterstück wurde. Es thematisiert den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und die Rolle der marxistischen Intellektuellen. Die Hauptfigur des „Chefs“ ist mit zahlreichen Zügen von Bertolt Brecht ausgestattet. Gegen eine Deutung, die das Drama auf ein Anti-Brecht-Stück reduziert, hat sich Grass jedoch stets verwahrt. 1968 veröffentlichte Grass das Buch Briefe über die Grenze, ein Dialog zwischen dem tschechischen Schriftsteller Pavel Kohout und Grass zum Thema „Prager Frühling“.
1969 erschien Grass’ Roman örtlich betäubt. Hierin verteilte der Autor seine eigene (anarchistische und sozialdemokratische) politische Einstellung auf verschiedene Personen, im Mittelpunkt ein Zahnarzt, die sich mit aktuellen Problemen auseinandersetzen. Es war das erste Mal, dass Grass über ein aktuelles Thema schrieb (Studentenbewegung). Andere Bücher hatten immer einen starken Vergangenheitsbezug. In den USA wurde das Buch euphorisch aufgenommen, während sich in Deutschland die Kritiker eher zurückhielten.[35] Nach dem Erscheinen der Erzählung Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972), welche den Bundestagswahlkampf 1969 beschreibt, zog Grass sich vorübergehend aus dem politischen Leben zurück.
1977 wurde Grass’ Roman Der Butt veröffentlicht, der seinen internationalen Ruf als Epiker untermauerte. Zwei Jahre später brachte Grass die Erzählung Das Treffen in Telgte heraus. Einige Poeten der Barockzeit treffen sich dort im Jahr 1647 während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden. Das Treffen verläuft weitgehend nach den Gepflogenheiten der 300 Jahre später von Hans Werner Richter ins Leben gerufenen Gruppe 47. Die Erzählung ist Richter gewidmet. Der erste Satz von Der Butt („Ilsebill salzte nach.“) wurde 2007 von einer Prominenten-Jury zum schönsten ersten Satz der deutschsprachigen Literatur gewählt.
Eine Asienreise inspirierte Grass 1980 zu Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus, einem erzählenden Werk, welches unter anderem damalige politische Ereignisse behandelt. Acht Jahre später folgte das Prosawerk Die Rättin, das 1997 verfilmt wurde und ein apokalyptisches Feature über den Selbstmord der Menschheit zeichnet. 1992 erschien die Erzählung Unkenrufe, die Grass’ Bemühen um die Versöhnung der Deutschen mit sich und den östlichen Nachbarn zeigt.
Sein bisher letzter Roman, Ein weites Feld, erschien 1995. Er spielt in Berlin zwischen Mauerbau und Wiedervereinigung und ist ein Panorama deutscher Geschichte von der Revolution von 1848 bis zur Gegenwart. Eine bis heute nicht nachlassende Langzeitwirkung entfaltete der Roman durch den zum geflügelten Wort gewordenen Satz über die DDR: „Wir lebten in einer kommoden Diktatur“. Für dieses heftig umstrittene, politisch orientierte Buch erhielt Grass den Hans-Fallada-Preis. Der Protagonist des Romans, Fonty, ist an das Alter Ego von Theodor Fontane angelehnt und schlägt so den Bogen vom 19. Jahrhundert bis heute. Das Buch wurde in der Öffentlichkeit stark diskutiert, was unter anderem dazu führte, dass bereits nach acht Wochen die fünfte Auflage in Druck ging.
2002 erschien die Novelle Im Krebsgang, die den Untergang des mit Flüchtlingen besetzten Schiffs Wilhelm Gustloff am Ende des Zweiten Weltkrieges behandelt. Ein Jahr später erschien Letzte Tänze, eine Sammlung vorwiegend erotisch geprägter Gedichte und Zeichnungen.
Beim Häuten der Zwiebel, ein autobiografisch geprägtes Buch ohne explizite Gattungsbezeichnung, erschien im August 2006. In diesem Erinnerungsbuch „häutete“ sich der Autor, indem er Schichten seiner Jugenderinnerungen freilegte. Beim Freilegen einer dieser „Häute“ sorgte Grass damit für Aufsehen, dass er nach über 60 Jahren bekannt gab, im Herbst 1944 als 17-jähriger zur Waffen-SS eingezogen worden zu sein.[36] Dieser Umstand wurde der Öffentlichkeit jedoch schon kurz vor Erscheinen des Buches durch ein Interview bekannt, das Grass der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gab.[37][4]
Lyrische Werke
Neben seinen Romanen schrieb Grass auch einige Gedichtbände, die er mit eigenen Bildern und Zeichnungen ergänzte. Später erklärte er, am meisten liege ihm die Lyrik, von der er eigentlich komme. Sie erschien ihm als die Form des Schreibens, die am klarsten und deutlichsten sei und mit der er sich selber am besten in Frage stellen und ausmessen könne. Sein literarischer Werdegang begann im Frühjahr 1955, als er Gedichte an einen Lyrikwettbewerb des Süddeutschen Rundfunks schickte und dort auf Anhieb den dritten Preis gewann. Von der Preisverleihung zurückgekehrt, fand er ein Telegramm von Hans Werner Richter vor, mit dem er zur Tagung der Gruppe 47 in Berlin eingeladen wurde. Seine Lesung weckte das Interesse Walter Höllerers. In der Folge veröffentlichte der Luchterhand-Verlag 1956 sein erstes Buch.[38]
Die Vorzüge der Windhühner verkaufte sich in den ersten Jahren zwar nur 700 mal, doch beurteilten Kritiker das Buch recht positiv als einen „Weg zur realistischen Darstellung des Alltags“.
Im 1960 erschienenen Gleisdreieck geht er auf die damals gerade erschienene Blechtrommel ein. Neben große und düstere Kohlezeichnungen gesellen sich 55 Gedichte, die sehr stark die Wirklichkeit einbeziehen oder Gegenstände beschreiben. Er erzählt von Berlin.
Im nächsten Lyrikband, Ausgefragt von 1967, bezieht sich Grass besonders auf zwei Dinge: Biographisches und Politisches. Er dichtet über persönliche Erfahrungen und verarbeitet den 1965er Wahlkampf, in dem er für die SPD und Willy Brandt eintrat.
Neben einigen weniger eminenten Werken (zum Beispiel Liebe geprüft) und einigen Sammelbänden, erschien 1983 Ach Butt, dein Märchen geht böse aus. In diesem Werk wurden überwiegend die Gedichte aus den Romanen Der Butt und Die Rättin zusammengetragen. Inhaltlich beschreiben sie zum Teil detailliert Nahrungsmittel oder den Kot (als menschliches Endprodukt).
Grass’ Gedichte sind realistisch geprägt, aber oft mit typisch scharfer Ironie gewürzt, wie auch sein kürzestes Gedicht Glück:
Ein leerer Autobus
stürzt durch die ausgesternte Nacht.
Vielleicht singt sein Chauffeur
und ist glücklich dabei.
(Ironisches Schlüsselwort des Gedichtes ist das Wort Vielleicht. In dem Verbinden eines sinnlosen Geschehens mit einem Glücksgefühl des an diesem Geschehen Beteiligten verweist es auf religiöse, metaphysische Spekulationen, bei welchen trotz eines sinnlosen Erdendaseins auf ein jenseitiges Glück spekuliert wird.[39])
Im Jahr 2012 veröffentlichte Grass in verschiedenen Tageszeitungen die politischen Gedichte Was gesagt werden muss und Europas Schande.[40][41]
Günter Grass erhielt im Jahr 1999 den Nobelpreis für Literatur, weil er – so die Begründung der Jury – „in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat“ (“[he is the author] whose frolicsome black fables portray the forgotten face of history”). Darüber hinaus hat Grass noch etliche Auszeichnungen erhalten, von denen im Folgenden einige genannt werden.
1958 erhielt Grass den Förderpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI e.V.,[87] 1965 wurde ihm der Georg-Büchner-Preis verliehen, „für sein Werk in Lyrik und Prosa, worin er kühn, weitausgreifend und kritisch das Leben unserer Zeit darstellt und gestaltet.“ 1967 wurde er mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet, 1968 mit dem Fontane-Preis. 1969 erhielt er den Theodor-Heuss-Preis. 1994 verlieh ihm die Bayerische Akademie der Schönen Künste ihrenGroßen Literaturpreis. 1995 wurde Grass mit der Hermann-Kesten-Medaille ausgezeichnet, im Jahr darauf mit demThomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck, dem Samuel-Bogumil-Linde-Preis und 1996 auch mit dem Hans-Fallada-Preis. 1999 ehrte ihn Spanien mit dem Prinz-von-Asturien-Preis für Geisteswissenschaften und Literatur.
Günter Grass ist Ehrendoktor des Kenyon College (1965), der Harvard University (1976), der Adam-Mickiewicz-Universität Posen (1990), der Universität Danzig (1993), der Universität Lübeck (2003)[88] und der Freien Universität Berlin (2005).
2006 wurde ihm der Internationale Brückepreis verliehen, dessen Annahme er jedoch ablehnte, weil CDU-Kommunalpolitiker die Entscheidung der unabhängigen deutsch-polnischen Jury infrage stellten. Auch die Annahme des Antonio-Feltrinelli-Preises 1982 hatte er abgelehnt.
Grass ist seit 1993 Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Danzig und Ehrendoktor der dortigen Universität. 2007 erhielt er den Ernst-Toller-Preis.
Die 1960 vorgesehene Ehrung mit dem Bremer Literaturpreis scheiterte am Widerspruch des Bremer Senats. Im selben Jahr erhielt er jedoch den Deutschen Kritikerpreis.
Der deutsche Astronom Freimut Börngen schlug für seinen 1989 entdeckten Asteroid den Namen (11496) Grass vor.
2009 wurde in seiner Geburtsstadt Danzig ein Günter-Grass-Museum eröffnet.
2012 wurde Grass von der dänischen Europäischen Bewegung (Europabevægelsen) mit dem Ehrentitel „Europäer des Jahres 2012“ ausgezeichnet. Gewürdigt wurden unter anderem seine europapolitischen Debattenbeiträge.[89]
2013 erhielt Günter Grass gemeinsam mit seiner Ehefrau Ute die Auszeichnung „Schleswig-Holsteinischer Meilenstein“ des Verbandes Deutscher Sinti und Roma e. V. – Landesverband Schleswig-Holstein für sein jahrelanges Engagement für die Minderheit der Sinti und Roma.[90]
Laut eigener Aussage sollte Grass in den 1970er-Jahren das Bundesverdienstkreuz erhalten. Er lehnte jedoch mit dem Hinweis ab, dass er Bürger einerHansestadt sei. Der wahre Grund sei jedoch gewesen, dass auch viele ehemalige Nationalsozialisten den Orden bekommen hatten.[91]
Romane, Novellen und Erzählungen
Günter Grass’ Unterschrift
- Danziger Trilogie
- Die Blechtrommel. Roman. Luchterhand, Neuwied 1959.
- Katz und Maus. Novelle. Luchterhand, Neuwied 1961.
- Hundejahre. Roman. Luchterhand, Neuwied 1963.
- örtlich betäubt. Roman. Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1969.
- Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Roman. Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1972.
- Der Butt. Roman. Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1977.
- Das Treffen in Telgte. Erzählung. Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1979.
- Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Erzählung. Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1980.
- Die Rättin. Roman. Luchterhand. Darmstadt und Neuwied 1986.
- Unkenrufe. Erzählung. Steidl, Göttingen 1992.
- Ein weites Feld. Roman. Steidl, Göttingen 1995.
- Mein Jahrhundert. Roman. Steidl, Göttingen 1999.
- Im Krebsgang. Novelle. Steidl, Göttingen 2002.
- Beim Häuten der Zwiebel. Erinnerungen. Steidl, Göttingen 2006.
- Die Box. Roman. Steidl, Göttingen 2008.
- Unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990. Steidl, Göttingen 2009.
- Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. Steidl, Göttingen 2010, ISBN 978-3-86930-155-6.
Dramen
- Die bösen Köche. Ein Drama. 1956.
- Hochwasser. Ein Stück in zwei Akten. 1957.
- Onkel, Onkel. Ein Spiel in vier Akten. 1958.
- Noch zehn Minuten bis Buffalo. Ein Spiel in einem Akt. 1958.
- Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel. 1966.
Lyrik
- Die Vorzüge der Windhühner. 1956.
- Gleisdreieck. 1960.
- Ausgefragt. 1967.
- Gesammelte Gedichte. 1971.
- Letzte Tänze. 2003.
- Lyrische Beute. 2004.
- Dummer August. 2007.
- Was gesagt werden muss. Einzelveröffentlichung, 2012.
- Europas Schande. Einzelveröffentlichung, 2012.[92]
- Eintagsfliegen. 2012.
- Poesiealbum 302. Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2012, ISBN 978-3-943708-02-8.
Grafik, Skulpturen, Plastiken
Der Butt, Plastik von Günter Grass
- Der Butt. Plastik im Hafen von Sonderburg, Dänemark.
- Zeichnungen und Schreiben. Das bildnerische Werk des Schriftstellers Günter Grass. Band I: Zeichnungen und Texte 1954–1977. Hrsg. von Anselm Dreher. Darmstadt/Neuwied 1982
- Zeichnungen und Schreiben II. Radierungen und Texte 1972–1982. Hrsg. von Anselm Dreher. Darmstadt/Neuwied 1984.
- In Kupfer, auf Stein. Die Radierungen und Lithographien 1972–1986. Göttingen 1986.
- Graphik und Plastik. Bearbeitet von Werner Timm. Regensburg 1987 (Ausstellungskatalog).
- Hundert Zeichnungen 1955–1987. Ausstellungskatalog der Kunsthalle Kiel. Hrsg. von Jens Christian Jensen. Kiel 1987.
Sonstiges
- „O Susanna“. Ein Jazzbilderbuch. Blues, Balladen, Spirituals, Jazz. Bilder: Horst Geldmacher. Deutsche Texte: Günter Grass. Musikarbeit: Herman Wilson. Mit einem Nachwort von Joachim-Ernst Berendt. Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1959.
- (mit Pavel Kohout) Briefe über die Grenze. Versuch eines Ost-West-Dialogs. (1968)
- Über das Selbstverständliche. Reden – Aufsätze – Offene Briefe – Kommentare. (1968)
- Die Vogelscheuchen. Ballettlibretto (UA 1970)
- Der Bürger und seine Stimme. Reden Aufsätze Kommentare. (1974)
- Denkzettel. Politische Reden und Aufsätze 1965–1976. (1978)
- Widerstand lernen. Politische Gegenreden 1980–1983. (1984)
- Zunge zeigen. Ein Tagebuch in Zeichnungen. (1988)
- Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland. (1992)
- Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeleut. (1993)
- Günter Grass, Ōe Kenzaburō: Gestern vor 50 Jahren. Ein deutsch-japanischer Briefwechsel. 1. Auflage. Steidl Verlag, Göttingen 1995, ISBN 3-88243-386-8, S. 108.
- Rede über den Standort (1997)
- Zeit, sich einzumischen. Die Kontroverse um Günter Grass und die Laudatio auf Yasar Kemal in der Paulskirche (1998)
- Vom Abenteuer der Aufklärung. Werkstattgespräche mit Harro Zimmermann. (1999)
- Günter Grass – Helen Wolff. Briefe 1959–1994. (2003).
- Hans Christian Andersens Märchen – gesehen von Günter Grass (2005).
- Uwe Johnson – Anna Grass – Günter Grass. Der Briefwechsel 1961–1984. (2007).
- Martin Kölbel (Hrsg.): Willy Brandt und Günter Grass – Der Briefwechsel. Steidl Verlag, Göttingen 2013, ISBN 978-3-86930-610-0.
Hörbücher
- Günter Grass: Es steht zur Wahl. Rede im Bundestagswahlkampf 1965. Schallplatte. Produktion Hermann Luchterhand Verlag o. J. [1965]
- Günter Grass …liest, …in Bremen, …antwortet, …zur Person. CD-ROM. Redaktion Jörg-Dieter Kogel u. Kai Schlüter. Produktion Radio Bremen/Steidl Verlag 1998.
- Günter Grass liest „Mein Jahrhundert“. 6 CD. Redaktion Jörg-Dieter Kogel u. Kai Schlüter. Produktion Radio Bremen/Steidl Verlag/Deutsche Grammophon 1999.
- Heinrich Böll/Günter Grass: Reden anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1972 und 1999. 2 CD. Redaktion Kai Schlüter. Produktion Radio Bremen/Deutsche Grammophon 2000.
- Günter Grass: „Als ich 32 Jahre alt war, wurde ich berühmt.“ Eine akustische Collage aus Originaltönen. Von Gabriele Intemann, Dorothee Schmitz-Köster u. Walter Weber. Produktion Radio Bremen/Der Audio Verlag 2001.
- Günter Grass/Günter „Baby“ Sommer: Mein Jahrhundert. Eine Text- und Toncollage. 2 CD. Redaktion Jörg-Dieter Kogel. Produktion Radio Bremen/Steidl Verlag 2001.
- Günter Grass liest „Im Krebsgang“. 9 CD. Produktion Der Hörverlag 2002.
- Günter Grass liest „Lyrische Beute“. 140 Gedichte aus fünfzig Jahren. 3 CD. Produktion Steidl Verlag 2004.
- Günter Grass/Helene Grass/Stephan Meier: Des Knaben Wunderhorn oder Die andere Wahrheit. Ein literarisch-musikalischer Abend. 2 CD. Produktion Steidl Verlag 2004.
- Günter Grass liest „Ein weites Feld“. 24 CD. Redaktion Jörg-Dieter Kogel, Kai Schlüter u. Harro Zimmermann. Produktion Radio Bremen/Steidl Verlag 2006.
- Günter Grass/Hermann Kant: „Ich mache Sie mitverantwortlich…“. Das Streitgespräch zur DDR-Vergangenheit am 21. März 2010 im Berliner Ensemble. Redaktion Kai Schlüter u. Ralph Schock. Produktion Saarländischer Rundfunk/Radio Bremen 2010 (SR2 Edition No. 05).
- Günter Grass liest „Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung“. 11 CD. Produktion NDR/Steidl Verlag 2010.
- Günter Grass liest „Der Butt“. 24 CD. Redaktion Jörg-Dieter Kogel u. Harro Zimmermann. Produktion Radio Bremen/Steidl Verlag 2011.
- Günter Grass: „Ich klage an“. Die Cloppenburger Wahlkampfrede. 14. September 1965. Hg. v. Kai Schlüter. Produktion Radio Bremen/Ch. Links Verlag 2011.
- mit Martin Walser:
- Ein Gespräch über Deutschland. Edition Isele, ISBN 3-86142-044-9.
- Zweites Gespräch über Deutschland. Edition Isele, ISBN 3-86142-167-
- http://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Grass